Nur nicht absteigen

FAZ, 6.10.2005

Wer vom Rad absteigt, hat schon verloren

Fahrradfahren in China hat seinen eigenen Reiz und findet auch bei deutschen Touristen Anklang.

Das winzige Stück Karotte weigert sich beharrlich, zwischen zwei Stäbchen eingeklemmt zu werden. Immer wieder rutscht es auf den Teller in der Mitte des Tisches zurück. Die junge Kellnerin beobachtet unsere hilflosen Essversuche mit einem nachsichtigen Lächeln. Schließlich nimmt sie die Holzstäbchen in die rechte Hand und zeigt uns, wie man mühelos auch ohne Gabel und Löffel satt werden kann.

Kommunikation ohne Worte – wer sich als Europäer nach China aufmacht, muss sich darauf einlassen können. Zu fremd scheinen die wundersamen Schriftzeichen, zu ungewohnt klingen die Worte, als dass man sich der Sprache zu nähern traut. Um dem Land und seinen Menschen nahe zu kommen, sind daher ein kundiger Reisebegleiter und vor allem Neugier auf eine Nation im Aufbruch gute Voraussetzungen. Wir haben beides, als unsere achtköpfige Reisegruppe in Beijing (Peking) landet und von Falk Grollmus am Flughafen empfangen wird. Der tourerprobte Sinologiestudent wird uns in den kommenden zwei Wochen auf einer Radtour rund um die chinesische Hauptstadt begleiten und sich als verlässlicher Vermittler zwischen den Welten erweisen. 

Die erste Bewährungsprobe folgt am kommenden Tag. Wir nehmen unsere Trekkingsräder in Empfang – und los geht es über sechsspurige Straßen und durch kleine Gassen zum Himmelstempel. Anfangs haben wir Mühe, Falk durch das Gewühl von Radfahrern zu folgen. Es hilft nichts, wir müssen unsere europäischen Verkehrssitten hinter uns lassen. Hier gilt das Recht desjenigen, der nicht nachgibt. Vor uns scheren plötzlich Radfahrer aus, von links versuchen sich abbiegende Autos durch den nicht enden wollenden Strom von Rädern zu schieben. Nur nicht absteigen – das haben wir schnell begriffen. Denn so chaotisch sich alles präsentiert – dahinter scheint tatsächlich ein System zu stehen. Alles fließt – wie ein von unsichtbarer Hand gelenkter Fischschwarm bewegen sich Pekings Fahrradfahrer durch die Stadt – und schon bald tun wir es ihnen gleich. 

Die Zeiten, in denen Fahrräder die Straßen dominierten, sind allerdings vorbei. Mittlerweile ist Peking zur Hauptverkehrszeit ebenso mit Autos verstopft wie jede westliche Metropole. Uns bleibt eine breite abgetrennte Spur am Rand – auf der wir fröhlich inmitten vieler Tausend Chinesen an den Staus vorbeiradeln: Durch hochmoderne Einkaufszonen mit Starbucks und Mc Donald`s ebenso wie durch traditionelle Wohnviertel. Die so genannten Hutongs sind wie kleine Dörfer innerhalb der Großstadt, an denen die Modernisierung scheinbar spurlos vorbei gegangen ist. Hier kann man noch ein Stück echtes China erleben: Händler bieten auf der Straße ihr Gemüse feil, Garküchen verströmen ihre Gerüche, für Autos sind die Gassen hier zu eng. Eine Wohltat für jeden, der dem irrsinnigen Verkehr auf den großen Straßen für eine Zeit entfliehen will. 

Nach zwei Tagen packen wir unserer Radtaschen und machen uns auf dem Weg aufs Land. Am Rand der Metropole wird die smoggeschwängerte Luft endlich besser, der Verkehr lässt nach. 500 Kilometer werden wir in den nächsten zehn Tagen zurücklegen. Falk will uns das „Kaiserliche China“ zeigen, auf einer Tour, die der Berliner Reiseveranstalter „China by Bike“ seit mehreren Jahren anbietet. In der Tat ist das Fahrrad für diese Entdeckungsreise ideal. Denn wir sehen in den kommenden Tagen nicht nur die beeindruckenden Tempel und Grabstätten, welche die chinesischen Herrscher errichten ließen, sondern fahren auch mitten durch das pralle chinesische Leben. Kultur und Alltag werden auf dem Fahrrad eins. Die wunderschöne bergige Landschaft im Norden Beijings und die guten Straßen machen das Vergnügen komplett. 

Vorbei an kleinen Kanälen und Maisfeldern, durch Obstplantagen und Pappelallen erreichen wir unser erstes Landquartier. Unser Etappenziel Changping, die für chinesische Verhältnisse so kleine Stadt, erweist sich als hochmodernern Wirtschaftsstandort. Erstaunt fahren wir über frisch geteerte Straßen vorbei an gläsernen Fassaden, hinter denen High-Tech-Unternehmen residieren. Wir erleben ein Land im wirtschaftlichen Aufbruch, mit einer Dynamik, die uns immer wieder ins Staunen versetzt. Und doch auch eine Nation, in der die Landbevölkerung in weiten Teilen noch so lebt, wie vor Jahrzehnten. Neugierig mustern uns die Menschen am Straßenrand. Hier, einhundert Kilometer außerhalb der quirligen Hauptstadt, sind Ausländer noch eine Attraktion – besonders dann, wenn sie in einer Gruppe auf dem Fahrrad vorbeifahren und zudem noch Helme tragen. Immer wieder werden unserer Gangschaltungen bewundert – die meisten Chinesen fahren stabile Eingangräder oder Dreiräder, auf denen schier unglaubliche Lasten transportiert werden. 

Nur eine Tagestour entfernt von Changping liegen die Gräber der Ming-Kaiser. Wir passieren einen Stausee und nähern uns zum ersten Mal auf der Reise einem Teilstück der chinesischen Mauer. Erst ist sie nur als schwache weiße Linie am Horizont zu erkennen. Doch je näher wir kommen, desto mehr beeindrucken uns die Länge und der Verlauf des Wunderwerks. Soweit das Auge reicht zieht sie sich über die Bergrücken, steil hinauf und hinab. So steil, dass einem selbst zu Fuß leicht die Luft ausgeht. Der Nachmittag auf einem unberührten wilden Mauerstück, fernab der Touristenströme, ist ein echter Höhepunkt der Reise. 

Stets werden wir freundlich gegrüßt, wenn wir in den kommenden Tagen durch kleine Dörfer fahren, vorbei an Verkaufsständen, in der Sonne sitzenden Schulkindern und dösenden Alten, blitzblank geputzten Gassen und den zahllosen Bauarbeitern, die alle Straßen rund um Peking zu teeren scheinen. Und stolz präsentieren wir unsere erste Vokabel: „Ni hao“ – guten Tag rufen wir jedem entgegen, der uns anschaut und ernten nicht selten ein freundliches Gelächter. Ganz so, als sei man verwundert, dass diese seltsamen Langnasen auch noch sprechen können. 

Wo immer wir stehen bleiben, nähern sich uns die Menschen neugierig. „Was macht ihr? Mit dem Fahrrad zur Mauer fahren?“ fragt mich erstaunt ein junger Mann, als wir nach einem Mittagessen zu den Rädern zurückkehren? „Das ist doch schädlich für ihre Gesundheit“, fügt er etwas fassungslos hinzu. Aber es macht Spaß. Ohne etwas Kondition geht es allerdings nicht. Die Etappen sind zwischen 35 und 90 Kilometer lang. An einem Tag sind 1000 Höhenmeter zu überwinden, doch die kleine Straße, die sich idyllisch durch die Berge schlängelt, entschädigt für die Mühe. Zumal am Ende eine 20 Kilometer lange Abfahrt auf uns wartet. An diesem Abend schmeckt das Essen besonders gut. Wie immer sitzen wir rund um einen großen Tisch und lassen uns von Falk eine Variation von Köstlichkeiten bestellen. Mit den süß-sauren Glutamatbomben aus deutschen Chinarestaurants haben die Speisen vor uns nichts gemein. Jedes Essen ist eine Entdeckungsreise und schon bald benutzen wir die Stäbchen wie verlängerte Finger und bedienen uns von den zahlreichen Platten, die vor uns stehen. Dazu trinken wir das leichte Pekinger Bier. Als wolle sie uns den Abschied schwer machen, präsentiert sich die Hauptstadt vor unserer Abreise für zwei Tage unter strahlend blauem Himmel. Wir wollen nicht mehr runter vom Fahrrad und sind Teil des Stroms geworden. Absteigen tun wir jedenfalls nicht mehr.