Nicht wie Europa

Badische Zeitung, 12. März 2010

»Wir möchten nicht wie Europa sein«

In der US-Gesundheitsdebatte geht es auch um die Angst vor einem starken Staat – das macht sie für Obama so schwierig.

Barack Obamas Kampf um seine Gesundheitsreform tritt in die entscheidende Phase. Je hitziger die Debatte geführt wird, desto deutlicher offenbart sich der Graben, der sich durch die amerikanische Bevölkerung zieht. Auf der einen Seite stehen all jene, die hoffen, dass die USA endlich ein soziales Gesicht erhalten. Sie werden attackiert von vornehmlich Konservativen, die meinen, dass staatliche Fürsorge nicht im amerikanischen Traum vorgesehen ist.

Europäer, die ihre sozialen Sicherungssysteme als große Errungenschaft betrachten, macht diese mit scharfen Schwertern geführte Diskussion zutiefst ratlos. Wie ist es möglich, dass die mächtigste und reichste Nation der Welt mehr als 40 Millionen seiner Bürger ohne Krankenversicherung leben und sterben lässt? Und wie ist es erklärbar, dass Präsident Obama bei dem Versuch, diese unwürdige Situation endlich zu beenden, ein derartiger Widerstand nicht nur aus der Politik, sondern auch von großen Teilen der Bevölkerung entgegen schlägt?

Obamas Gegner argumentieren entlang der bekannten Fronten. Es ist eine der grundlegendsten Überzeugungen konservativer Amerikaner, dass der Staat sich möglichst wenig in das Leben seiner Bürgerinnen und Bürger einzumischen habe. Schon Thomas Paine, einer der Gründungsväter der Vereinigten Staaten, proklamierte, Regierung – auch in seiner besten Form – sei „nicht mehr als ein notwendiges Übel“. Heute segelt in diesem Wind die erfolgreiche Tea-Party-Bewegung, die sich am rechten Rand der republikanischen Partei gebildet hat. Sie würde die Bundesregierung am liebsten ganz abschaffen und bläst auf ihrer Facebook-Seite zum erbitterten Widerstand gegen das Reformprojekt. Soziale Absicherung ist in ihren Augen der erste Schritt in den Sozialismus und entspricht folglich nicht den Idealen eines Landes, das auf dem Glück des Tüchtigen aufgebaut ist. Der amerikanische Mythos feiert nicht die Kraft des Kollektivs, sondern des Individuums, das sich von Widerständen nicht schrecken lässt.

Sachliche Einwände gegen die Reform interessieren bloß einen kleinen Kreis

Nun gibt es sicher auch politische Argumente gegen Obamas Gesundheitsreform: Republikaner und auch einige Demokraten befürchten, dass der US-Haushalt die rund eine Billiarde US-Dollar, die der Versicherungsschutz für alle in den kommenden zehn Jahren kosten würde, nicht verkraften werde. Von Seiten der Wirtschaft formiert sich wiederum Widerstand gegen eine stärkere Kontrolle der privaten Versicherungskonzerne, in dessen Händen die amerikanische Gesundheitsversorgung liegt. Es geht zudem um die Finanzierung von Abtreibungen in einem tief religiösen Land und um steigende Abgaben zur Gegenfinanzierung der Kosten.

Doch dies sind Argumente, die in ihrer Nuanciertheit meist nur in informierten Kreisen diskutiert werden. Wer den Gegnern der Reform zuhört, ihre Leserbriefe und Internetblogs liest, stößt häufig auf Emotionen statt auf Argumente, auf eine tief verwurzelte Abneigung gegen die Bundespolitik und gegen jene Vertreter in Washington, die in elitären Zirkeln über das Wohl des Volkes entscheiden. Mit Verachtung schauen die Kritiker auf die angeblich korrupte Ostküstenelite, die wenig von dem Leben im ländlichen, im wahren Amerika verstehe. Manches Mal schlägt diese Verachtung in Gewalt um: Im Februar steuert ein Pilot in Texas seine Cessna in ein Büro der US-Steuerbehörde, im März schoss ein Mann an der Metrostation des Pentagon auf zwei Wachmänner. Auch das Bombenattentat in Oklahoma auf ein Gebäude der Bundesregierung, das 1995 fast 170 Menschenleben kostet, wurde von einem fanatischen Regierungsgegner begangen.

Nun ist es nicht so, dass staatliche Regulierung in allen Bereichen auf Gegenwehr stößt. Drei Fünftel aller Amerikaner befürworten seriösen Umfragen zufolge eine stärkere Regulierung der Finanzmärkte. Im Fall des Skandals um klemmende Gaspedale in einigen Toyota-Modellen war es eine Bundesbehörde, die den Autohersteller zur Aufklärung der Vorfälle zwang.

Umverteilung entspricht nicht dem amerikanischen Traum

Doch im Fall der Krankenversicherung liegen die Dinge anders – der persönliche Vorteil für jene 85 Prozent, die bereits versichert sind, ist wenig greifbar. Da zudem Zweidrittel der Nichtversicherten zu den Ärmsten gehören, brächte Obamas Gesundheitsreform eine gesellschaftliche Umverteilung von Ressourcen und Risiken, die nicht Teil des amerikanischen Lebenstraums ist. Der beinhaltet nicht Wohlstand für alle, sondern die Chance auf den Aufstieg zu Ruhm und Reichtum. „Wir möchten nicht wie Europa sein“, schreibt der Reformgegner Douglas Wise. „Dort lebt die Mittelklasse wie unsere Sozialhilfeempfänger.“

Obama kämpft also nicht nur gegen republikanische Abgeordnete, er kämpft auch gegen starke Überzeugungen, die sich Sachargumenten entziehen. Und die sind vielleicht sein härtester Gegner.