Die Welt im Tal

Cipra (Hrsg): 3. Alpenreport, Bern 2007

Die Welt ins Tal bringen

Im Puschlav in Graubründen wurde das Internetalter in den Alpen eingeläutet.

„Ciao“! Cassiano Luminati hebt die Hand und grüßt. Ungefähr im Minutentakt geht das so, während er auf der Piazza von Poschiavo in der Sonne einen Espresso trinkt. Manchmal sagt er auch „Bundi“, so wünscht man sich im Puschlaver Dialekt des Schweizer Tals einen guten Tag. Cassiano kennt jeden hier, er ist ein Netzwerker, jemand der gerne mitmischt und gestaltet, ein Kommunikationstalent. Und als solcher hat in seiner Heimatstadt vor sechs Jahren den idealen Job gefunden: Seit 2001 leitet der 36-Jährige in dem kleinen Ort im südlichen Graubünden das „Polo Poschiavo“, ein Weiterbildungszentrum rund um neue Medien. Das Polo ist ein Erfolgsmodell und hat Poschiavo in der ganzen Schweiz bekannt gemacht: In fast jedem Haushalt im Tal steht mittlerweile ein PC, ein Internet-Anschluss ist für die meisten seit Jahren eine Selbstverständlichkeit. 

Ihre IT-Begeisterung tragen die Puschlaver nicht durch Laptops und Internetcafés zur Schau, sie spielt sich hinter den Fassaden ab. Und die sind in Poschiavo alles andere als dörflich. Der Ort trägt das hübsche Gewand einer italienischen Kleinstadt. Herrschaftliche Villen, die sich erfolgreiche Auswanderer im 19. Jahrhundert bauen ließen, täuschen darüber hinweg, wie klein der Flecken in Wahrheit ist. Und wer durch die idyllischen Gassen streift, würde nicht vermuten, dass hier vor mehr als zehn Jahren das Internet-Zeitalter in den Alpen eingeläutet wurde. 

Poschiavo hat 1700 Einwohner, im ganzen Puschlav, wie das Valposchiavo auf deutsch heißt, wohnen rund 5000 Menschen. 1100 von ihnen haben im Polo Poschiavo bereits einen Kurs gemacht, 200 weitere Teilnehmer stammen aus dem benachbarten Bergell. Händler, Hausfrauen, Existenzgründer, Hoteliers, Nonnen, Alte, Junge – eigentlich müsste man jene aufzählen, die noch nicht in dem modernen Schulungsraum im Berufsschulzentrum vor dem PC gesessen haben. 

Es ist kein Zufall, dass die Puschlaver so offen für die Computerwelt sind. Vernetzt mit der Welt waren sie auch schon zuvor: Dafür sorgte schon die Handelsstraße über die Alpen, die durch Poschiavo führte. Im Gebäude des heutigen Gasthofes Albrici an der wunderschönen Piazza wurde einst die erste italienische Übersetzung von Goethes Werther angefertigt – und die erste italienische Bibel gedruckt. Der Bernina-Express hält seit nun bald 100 Jahren in Poschiavo, Gäste kommen und gehen. Die Bahn ist neben dem Ökostrom-Produzenten Rätia-Energie der größte Arbeitgeber im Ort. Bewegung und Energie haben hier also Tradition. Und häufig waren es die Zugereisten und Zurückgekehrten, die das Dorf nach vorne trieben. Sie brachten Geld, frischen Wind und den Blick von außen. 

Auch Cassiano ist ein Heimgekehrter. Er verließ Poschiavo, um in Mailand Architektur zu studieren, eröffnete in der oberitalienischen Metropole mit Freunden ein Büro und konnte dann doch nicht widerstehen, als er die Stellenausschreibung für die Leitung des Polo Poschiavo sah. Damals, 2001, steckte das IT-Projekt im Umbruch. Es gab Konflikte mit der Hochschule in Lugano, die 1995 Poschiavo als Modellregion erwählt hatten. 

„Die Luganer suchten damals ein Schweizer Bergdorf, um ein Projekt für Fernunterricht über den PC zu entwickeln“, erzählt Danilo Nussio. 1995 war er noch Volksschullehrer im Nachbarort Brusio. Als das Tal als „Versuchskaninchen“ ausgewählt wurde, stieg Danilo in das Pilotprojekt „Progetto Poschiavo“, den Vorläufer des „Polo“, ein. Mit im Boot des Zwei-Millionen-Franken Projekts saßen der Bund und die Schweizer Telekom. Internet war zu der Zeit in Poschiavo noch so rar wie Schnee im Sommer, wer ins Netz wollte, musste sich analog als Ferngespräch in den nächsten, weit entfernten Provider einwählen. Mit dem Progetto Poschiavo kam das World Wide Web in den Ort, 1995 wurden die ersten ISDN-Leitungen gelegt, erinnert sich Danilo, ein Jahr später die ersten Websites gebastelt. Ab 2000 gab es DSL im Tal, früher als in mancher Großstadt, und 2002 schließlich ADSL. 

Skepsis oder Scheu vor dem IT-Zeitalter? „Nein, das gab es überhaupt nicht“, sagt Danilo. Stattdessen viel Euphorie für die Internetwelt. „Die Bevölkerung hat es sofort als Chance gesehen.“ Was als webgestützte Weiterbildung für Lehrer begann, wurde schnell zum Projekt für die gesamte Bevölkerung. Im Herbst 1996 gab es bereits die ersten Videokonferenzen, 90 pro Jahr wurden es schließlich. Unter anderem konnten Ärzte und Krankenschwestern über den PC Fortbildungen absolvieren, ohne das Tal verlassen zu müssen. 

Im Jahr 2001 lief das Pilotprojekt, das „Progetto Poschiavo“ aus. Danilo und sein Team hatten bereits ein Jahr vorher eine eigene Firma gegründet, das “ecomincare.ch. Der Universität in Lugano war die Auslagerung von Know-how ein Dorn im Auge. „Es gab damals Spannungen“, räumt Danilo ein. „Das Projekt brauchte eine Zäsur“, fügt Cassiano hinzu. Es musste sich emanzipieren und abnabeln. Schließlich gelang es, eine neue Struktur zu schaffen, die auf dem Alten aufbaut und dennoch einen Schnitt bedeutete. Das Polo Poschiavo wurde geboren, unter Beteiligung vom Kanton Graubünden. den Regionen und Gemeinden sowie dem Handwerker- und Einzelhandelsverband. Finanziert wird die Einrichtung zu 75 Prozent durch Gelder vom Bund und Kanton, die restlichen 25 Prozent stammen aus den Kursgebühren. 

Auch Danilo Nussio und „ecominicare.ch“ sitzen weiter im Boot. Sie unterrichten wie früher die Kurse, Cassiano und seine Sekretärin organisieren das Polo und treiben neue Allianzen und Projekte voran. Nach wie vor arbeitet das Zentrum mit der Luganer Universität zusammen. „Aber heute sind wir Partner und nicht mehr an der Leine der Hochschule“, sagt er. „Wir haben uns ein eigenes Image aufgebaut als “Kompetenzzentrum für ständige Weiterbildung und die Begleitung von Entwicklungsprojekten“. 

Dahinter steht die simple Einsicht, dass Lernen ein lebenslanger Prozess ist. Der rasante Fortschritt und die immer neuen Möglichkeiten rund um die IT-Technik sorgen dafür, dass dem Polo neue Kursangebote nicht ausgehen. Für den Unterricht treffen sich die Teilnehmer im modernen Computerraum in der Berufsschule. 250 bis 300 im Jahr sind es jährlich. Dabei sind Frauen eindeutig in der Überzahl. „Sie trauen sich mehr zu als Männer“, sagt Danilo Nussio, der selber unterrichtet, „und vor allem trauen sie sich, etwas zu fragen.“ 

Der Computer verändert nicht das Leben der Menschen, er unterstützt sie in dem, was sie tun. Unter dieser Maxime steht die Arbeit des Polo Poschiavo. Der eine nutzt den PC für die private Korrespondenz und zum Surfen, Kleinbetriebe machen am Computer ihre Abrechnungen und entwickeln websites – Lehrer und Handwerksmeister bilden sich über virtuelle Lernplattformen weiter. Die Kurse des Polo sind so vielfältig wie die Bedürfnisse der Menschen im Puschlav. Und das Internet macht die Teilnehmer unabhängig vom Raum – ein unschlagbarer Vorteil in einem Alpental, in dem der nächste Ort schon mal eine mühsame Autofahrt entfernt ist. 

Wie für Gino Bongulielmi. Der Schreiner aus Brusio, einem Nachbarort von Poschiavo, verbringt seit vielen Jahren den Sommer auf seiner Alm San Romerio. Nach und nach hat er das Haus ausgebaut. Nun können dort Biker und Wanderer in Zimmern und Lagern weit oberhalb des Tals übernachten. Wie aber vermarktet man ein so abgelegenes Paradies? Gino hat sich nach einem viermonatigen Kurs im Polo Poschiavo eine Website gebaut. „Es war kompliziert, aber ich habe mich da reingewühlt“, erzählt der 40-Jährige im Kreise seiner drei Kinder und seiner Frau. Seit drei Jahren ist seine Homepage im Netz. Mittlerweile kommen 50 Prozent seiner Buchungen per Email. Über seine Telefonleitung wählt sich Gino ins Internet ein – inmitt
en eines idyllischen Alpenpanoramas. Für Gino ist das Internet ein wichtiger Pfeiler seines Geschäfts geworden. 

Beispiele wie dieses finden sich in Poschiavo zuhauf. Ein Streifzug durch den Ort zeigt, wie das Polo die Menschen in ihrem Alltag und Berufsleben unterstützt und ihnen neue Möglichkeiten eröffnet. So hat der kleine Pastaladen unweit der Piazza auf den ersten Blick wenig mit Computerkenntnissen zu tun. Hinter der Theke steht Giovanna Tosio, im Nebenraum fertigt ihre Mitarbeiterin die frischen Teigwaren, unter anderem Puschlaver Spezialitäten aus Buchweizen. Das Geschäft wurde 2001 eröffnet – und es läuft gut. Für die Inhaberin Giovanna ist der Computer eine wertvolle Hilfe. Dank der Kurse im Polo Poschiavo kann die 37-Jährige zuhause am PC ihre Buchführung erledigen, Preislisten erstellen und individuelle Etiketten für die getrocknete Pasta und Pesto entwerfen und drucken. Derzeit sitzt sie an ihrer website. „Eigentlich schon seit Monaten“, gesteht Giovanna lachend. 

Auch Oberschwester Maurizia hat vor fünf Jahren im Polo gelernt, dass der Computer im Klosterleben durchaus nützlich sein kann. „Ganz einfach ist mir der Kurs nicht gefallen“, räumt die heute 73-Jährige ein. „Aber man muss ja mit der Zeit gehen“. Schließlich ist das Kloster nicht nur ein Ort der Besinnung, sondern auch ein finanzkräftiges Unternehmen, das es zu verwalten gilt: Das „Monastero S. Maria Presentata delle Suore Agostiniane“ ist seit 1693 eine Institution im Ort. Heute leben die 18 Schwestern im imposanten Neubau auf einer Anhöhe am Rande der Stadt. In dessen kleiner Bibliothek hat der PC nun seinen festen Platz, auf seinem Bildschirm kleben die Comicfigur Tweety – und ein Heiligenbildchen. Neben dem alten Gebäude im Ortskern, das zu einem Tagungszentrum umgebaut wurde und dem Neubau gehört auch das lokale Altersheim zu dem Orden. „Das ganze Personal hat bei uns Kurse gemacht“, erzählt Cassiano. Richtig begeistern kann sich Oberschwester Maurizia für die neue digitale Welt allerdings nach wie vor nicht. Mittlerweile hat sie Schwester Alessandra (42) zur PC-Beauftragten des Klosters ernannt. Die freundliche Nonne aus Kolumbien katalogisiert unter anderem die 6000 Bücher des Klosters mithilfe des Computers, schreibt Emails in ihre Heimat, bearbeitet digitale Bilder und brennt sie auf DVD. Die schauen sich die Schwestern dann abends vor dem Fernseher an. 

Frischen Wind in alte Traditionen – das hat auch Wanda Niederer gebracht. Sie kam vor drei Jahren aus Zürich nach Poschiavo und leitet seit seither die „Tessitura Valposchiavo“, die Handweberei in Poschiavo. Zwischen den großen Webstühlen, auf denen die vier Angestellten mit Kraft und Schwung das Webschiffchen in Fahrt bringen, sitzt die 48-Jährige an ihrem Computer und macht die Abrechnungen. Demnächst soll die Website auf Vordermann gebracht werden. Die Konkurrenz schläft nicht, im nächsten Tal hat die Handweberei bereits ihren Internetauftritt modernisiert. Häufig, das weiß auch Wanda, stoßen die Kunden durch die Website auf ihre Weberei. Umso wichtiger ist, dass sie ansprechend gestaltet ist „Da müssen wir unbedingt ran“, sagt Wanda selbstkritisch. Bald möchte die Tessitura ihre Waren auch online verkaufen können, ein weiterer Kurs im Polo Poschiavo ist geplant. Cassiano hat bereits von den Kissen neue Aufnahmen gemacht und sie auf einem Designersofa in Szene gesetzt. Und auf seinen Vorschlag hin stellen die Frauen in der Weberei nun auch kleine Handytaschen her – Tradition und Moderne eben. 

Nur wenige hundert Meter weiter hat sich Luigi Gisep im Erdgeschoss seiner Stadtvilla eine Dunkelkammer eingerichtet. Er ist einer jener Puschlaver, die die Welt gesehen haben und dann wieder zurückkehrten. Vor dem 81-Jährigen stapeln sich gerahmte Fotografien, die er als junger Ingenieur in Indien gemacht hat. Auch in Schweden und Argentinien hat er gearbeitet – und schließlich im Kraftwerk der Rätia-Energie. Aus dem Fenster hätte er einen atemberaubenden Blick auf die Berge, aber meisten sind die Augen des 81-Jährigen auf alte Fotos gerichtet. Luigi Gisep sammelt seit 30 Jahren alte Fotografien aus dem Tal, Tausende sind es mittlerweile: sie zeigen Arbeiter beim mühevollen Bau der Schienen für den Bernina-Express Anfang des 20. Jahrhunderts, Familien, die in steifer Pose vor dem Fotografen stehen oder auch die Plätze und Straßen von Poschiavo im 19. und 20. Jahrhundert. „Jede Woche kommt jemand und bringt mir Aufnahmen, die er gefunden hat“, erzählt er. Meist macht er Negative von den Abzügen – und dann kommt sein PC ins Spiel. Mithilfe seines Computers erstellt Luigi Gisep Verzeichnisse seiner vielen Tausend Bilder. Die Grundlagen hat er Gisep im Polo Poschiavo gelernt, in einem Kurs für über Sechzigjährige. „Das hat mich angespornt, mich mehr damit zu beschäftigen“, erzählt der von alten Aufnahmen umzingelte Senior. Demnächst möchte er noch lernen, Fotos einzuscannen und zu bearbeiten. Zum Computerfreak ist er ebenso wenig wie Oberschwester Maurizia geworden – aber beide sind gute Beispiele, wie die Arbeit des Polo Poschiavo alle Bevölkerungsschichten des Ortes erreicht: Junge und Alte, Laien und Experten, jene, die sich beruflich weiterbilden wollen und jene, die einfach nur verstehen möchten, wie ein Computer funktioniert. 

Im Zentrum der Arbeit des Polo Poschiavo steht jedoch nach wie vor die berufliche Weiterbildung der Bevölkerung über das so genannte Blended Learning. „Das hat das Polo eigentlich berühmt gemacht“, sagt Cassiano. Nach einer Einführung im realen Klassenzimmer finden die weiteren Unterrichtseinheiten über das Internet statt. Die Kursteilnehmer können über Videostreaming von Hause aus an den Kursen teilnehmen und sind untereinander über eine virtuelle Lernplattform vernetzt. Wer bei den Hausaufgaben Fragen hat, kontaktiert einfach über das Web die anderen Teilnehmer oder den Kursleiter. Die Antworten werden automatisch an alle versendet. „So lernen alle voneinander“, erklärt Cassiano. Die Technik macht möglich, dass auch Talbewohner, die sonst lange und im Winter oft mühsame Anfahrtswege hätten, ohne Aufwand an den Weiterbildungen teilnehmen können. Im virtuellen Klassenzimmer werden reale Entfernungen bedeutungslos. Auf einer preisgekrönten Plattform haben sich beispielsweise Ziegenzüchter vernetzt, die weit verstreut auf dem Almen leben. Über das Internet tauschen sie untereinander und mit Experten aus Mailand Informationen aus und beraten sich.Feste Wurzeln und den Blick nach vorne – so erscheinen die Menschen von Poschiavo im Gespräch. Weg aus der Heimat möchte hier eigentlich fast niemand, aber häufig ist es dennoch unausweichlich. „Dass Menschen abwandern, ist hier ja immer normaler Alltag gewesen“, sagt Cassiano. Wer studieren will, muss das Tal verlassen – aber viele möchten zurück kommen. Die neuen Medien bieten manches Mal einen Ausweg aus dem Entweder-Oder, Bleiben oder Weggehen: Die Alternative ist nun für einige: Bleiben und doch mit dabei sein und nicht abgehängt werden: Durch Weiterbildung per Liveschaltung, Marketing über das Internet, Onlineversand von im Tal gefertigten Waren. Oder auch auf privater Ebene durch Mails und Livechats mit der Familien und mit Freunden in der ganzen Welt. Das Internet bringt das Tal in die Welt – und die Welt in das Tal. 

Der Erfolg des Polo Poschiavo hat sich herumgesprochen, es ist ein anerkanntes Kompetenzzentrum geworden, das weit über das Tal hinausstrahlt. Mittlerweile kooperieren Cassiano und sein Team mit anderen Schweizer Tälern, mit zahlreichen öffentlichen Instituten und auch mit Orten in den norditalienischen Alpen. Bedarf, da ist sich Cassiano sicher, gibt es auf der anderen Seite der Grenze durchaus. „Was wir hier machen, ist dort ja noch Science-Fiction“, sagt er lachend.