Stadtteilmütter

Rheinischer Merkur, 2008

Im Armenhaus Berlins: Eine Stadtteilmutter im Einsatz

Sie besuchen Familien, die einst aus den gleichen Ländern kamen wie sie. Sie reden über Schule, Ernährung, Kinderrechte oder Gewalt. So helfen Migrantinnen Migrantinnen.

Wie die Orgelpfeifen stellen sich die Mädchen im Wohnzimmer auf, als Besuch kommt: Ganz vorne steht Lejla, 4, dahinter Alma, 3. Die hält hinter sich ihre kleine Schwester Ersa so fest an der Hand, dass sie mit ihren anderthalb Jahren auch wirklich nicht umfallen kann. Hinter den dreien sitzt Mama Lirije mit der Jüngsten, Djellza, vier Monate, auf dem Arm. Papa Hilmi, der die Tür geöffnet hat, baut sich voller Stolz vor den fünf Frauen auf: „Mein ganzer Stolz!“, sagt er und breitet die Arme aus, „meine Familie! Meine Frau! Meine Töchter!“ Ein albanischer Mann, alleine unter Frauen in Berlin-Neukölln – und entzückt darüber.

Die Alimis sind eine Familie wie es sie zu tausenden gibt. In Berlin und überall in Deutschland: Beide Eltern sind zugewandert, er als Kind, sie als Erwachsene. Seine Bildungskarriere war nicht sehr lang, nun schlägt er sich als Hilfsarbeiter auf dem Bau durch. Weil Geld für etwas Größeres fehlt, wohnen sie zu sechst in einer Drei-Zimmer-Wohnung in Berlin-Neukölln. Im größten Zimmer, dem Wohnzimmer, stehen außer der Sofagarnitur: ein Couchtisch, eine Schrankwand, ein Fernseher. Quietschbunte Comicfiguren balgen sich dort auf dem Bildschirm. Super RTL. Das zweite Zimmer ist mit drei Kinderbetten nebeneinander gut gefüllt; das dritte mit dem Doppelbett der Eltern und der Wiege für die Jüngste ebenso. Auch in der Küche hat nicht die ganze Familie Platz. Schon gar nicht heute, wo, wie fast täglich, Hilmis Mutter zu Gast ist. Wie es sich für ein Familienoberhaupt gehört thront sie auf dem einzigen Sessel vor dem Fenster, das ganze Geschehen im Blick. Sie spricht kaum Deutsch, dafür um so mehr mit den Augen. Die strahlen eine Warmherzigkeit aus, wie sie wohl nur Großmütter im Repertoire haben.

Auf der Suche nach dem besseren Leben

Als die Seniorin mit ihrem Ehemann nach Berlin zog, war der heutige Familienvater Hilmi ein kleiner Junge. Auf der Suche nach einem besseren Leben verließ die Familie den Kosovo in Richtung Deutschland. Der Mann verdingte sich als Gastarbeiter in einer Berliner Fabrik. Hilmi wurde mit fünf Geschwistern in Neukölln groß. In einer albanischen Familie, in einer albanischen Gemeinde. Nachmittags lernte er, damit er Kultur und Sprache der Heimat nicht verliert, in einer albanischen Schule. Auch türkisch hat er in Neukölln gelernt. „Ein Deutscher war in meiner Klasse, alle anderen waren Türken,“ erzählt er, „so wurden die andren Jungs der Gastarbeiter meine besten Freunde. Und ich habe gelernt, zu sprechen wie sie.“Seine Frau lernte Hilmi vor sechs Jahren kennen: in den Sommerferien in der alten Heimat. 19 Jahre war Lirije jung, als sie einen großen Schritt wagte: ihrer Ferienliebe in das völlig fremde Berlin zu folgen. Das Familienglück ließ nicht lange auf sich warten: Vier Kinder in fünf Jahren brachte sie zur Welt. Zum Kennenlernen ihrer Umgebung blieb da ebenso wenig Zeit wie zum Lernen der deutschen Sprache. Lirijes Berliner Bekanntenkreis spricht albanisch.

Auch der Besuch, der heute zum dritten Mal in der Tür steht, kennt das Leben in Albanien – aber auch das in Deutschland. Mehr noch: Kimete Beqiri ist für die Vermittlung zwischen den Welten ausgebildet. Die Deutsch-Albanerin ist eine von 80 Müttern, die im Auftrag des Diakonischen Werks in Neukölln Familien ihrer eigenen ethnischen Community zu Hause besuchen. Zehn Mal gehen die so genannten „Stadtteilmütter“ mit einer Umhängetasche, in der sich zehn Themenmappen befinden, in jede Familie, Eine Stunde lang dreht sich jeder Besuch um je ein Thema: um Schule oder Kita, Ernährung oder Gesundheit, Kinderrechte oder Medienerziehung, Sucht oder Motorik, häusliche Gewalt oder Anlaufstellen im Kiez.

Heute steht Ernährung auf dem Programm

Als Kimete Beqiri hörte, dass Stadtteilmütter gesucht werden, war sie sofort dabei. Nicht, dass sie nicht genug zu tun hätte: Sie ist Mutter von zwei Kindern und Fraktionsassistentin im Neuköllner Rathaus. Noch als sie bei den Alimis hineinkommt, ist sie am Handy beschäftigt: Ihr Sohn muss zur Musikschule; wer holt ihn von dort ab, jetzt wo sie bei einer anderen Familie im Einsatz ist? Sie diskutiert mit ihrer Mutter, mit einer Freundin, mit ihrem Mann. Zwei Minuten später hat sie sich auf dem Sofa niedergelassen und ist ganz bei den Alimis. „Ernährung“ steht heute auf dem Programm. Die Stadtteilmutter zieht das Modell einer Ernährungspyramide aus der Tasche. Von unten nach oben ist darin aufgebaut, was Kinder wie Erwachsene viel und wenig essen sollten: Unten stehen Getränke, Getreide, Obst und Gemüse, oben Schokolade und Eier.

Die 25-Jährige Lirije, in schwarzer Trainingshose und mit einem eng anliegenden schwarzen T-Shirt, hört aufmerksam zu. Welche Grundstoffe den Menschen besser und schlechter ernähren, hat der vierfachen Mutter tatsächlich noch nie jemand erklärt. Auch in welchen Lebensmitteln Vitamine und Magnesium enthalten sind, war ihr bisher fremd. Wenn sie kocht, geht sie in den Supermarkt und kauft vor allem Dinge, die ihr möglichst wenig fremd aussehen – was ganz natürlich ist; die deutschen Aufschriften auf den Packungen kann sie schließlich nicht lesen. Kimete nickt und erklärt Lirije, dass in mancher Hinsicht in Deutschland sogar mehr Gefahren im Essen lauern als in ihrer Heimat. „Im Kosovo geht man auf den Markt und bekommt frisches Gemüse vom Hof. Hier bezahlen Leute teures Geld für Bioware – aber wer aus dem Kosovo kommt, weiß das nicht. Er weiß auch nicht, was Pestizide sind.“ Als die Stunde vorbei ist hat Lirije viel gelernt. Der nächste Besuch, so wird vereinbart, soll in der kommenden Woche stattfinden.

Kimete Beqiri könnte Lirije Alimi nicht halb so gut verstehen wenn sie nicht selbst aus einer kosovarischen Familie käme – und sie könnte nicht so gut helfen wenn sie nicht so sehr Berlinerin wäre. Auch sie wurde bei albanischen Eltern groß, denen die Familie über alles ging – und die dennoch Probleme hatten, ihre Kinder auf die deutsche Gesellschaft vorzubereiten. Weil Kimete aber vermutlich noch nie auf den Mund gefallen war lernte sie schnell, sich durchzusetzen : gegen Lehrer, die ihr nichts zutrauten, weil sie Ausländerin war; gegen vier Brüder, die ihre Schwester kommandieren wollten; gegen die Verwandtschaft, die ziemlich klare Vorstellungen hatte, wie ein muslimisches Mädel zu sein hat, und wie nicht.

Als Welten-Wandererin im Kiez unterwegs

Heute ist sie eine perfekte Wanderin zwischen den Welten: Sie spricht fließend albanisch, ihr Mann ist Albaner. Am Tag der Unabhängigkeit des Kosovo rauschte sie selbstverständlich mit mehreren hundert anderen Albanern im Auto-Corso durch Berlin. Genauso selbstverständlich spricht sie akzentfrei deutsch, hat deutsche Freunde, arbeitet als Verwaltungsfachangestellte für eine deutsche Partei. Wer sie als Stadtteilmutter im Einsatz erlebt, denkt: Eine bessere hätte das Diakonische Werk nicht finden können. Die 30-Jährige ist ein Ausbund an Lebenslust, Quirligkeit und Engagement.

Und: Sie fördert auch ihre eigenen Kinder, wo sie kann: Die Jungs marschieren zum Fußball, gehen in die Musikschule und werden mit Ausflügen bespaßt. Zurzeit räumen Kimete und ihr Ehemann das Wohnzimmer aus, einem größeren Kinderzimmer zuliebe. Ihre Söhne, sagt die gebürtige Neuköllnerin, seien nicht nur ihr Ein und Alles – sie wisse auch, was Erziehung mit sich bringe: „Ich weiß, dass ich ihnen Vorbild sein muss,“ sagt Kimete, „mein Mann genauso. Was wir vorleben, leben sie nach. Wir zeigen ihnen unsere Welt; unsere Welt wird ihre Welt.“

Um sich von einer guten Mutter zu einer Stadtteilm
utter zu mausern hat Kimete Beqiri eine sechsmonatige Qualifizierung absolviert. Dabei hat sie viele Dinge gelernt, die ihr auch in der eigenen Familie nützen: über das Bildungssystem und zweisprachige Erziehung, Kinderrechte und Gesundheit, Sexualentwicklung und Ernährung. „Es gibt so viel, was man wissen sollte,“ sagt sie, „und so vieles, was man nicht weiß. Ich habe von der Ausbildung ungeheuer profitiert.“ Der Zugewinn für die eigene Familie ist dabei nur eins von vielen möglichen Motiven, sich als Stadtteilmutter zu engagieren. Ein weiteres ist die verbesserte Berufsfähigkeit; auch Geselligkeit spielt eine Rolle: Zwei bis dreimal die Woche treffen sich die Mütter, die aus der Türkei und dem Nahen Osten, aus Bosnien, Rumänien oder Bulgarien stammen: Zur Teamsitzung und zu Exkursionen, zur Fortbildung – aber auch weil sie Freundinnen geworden sind. Jeden Mittwoch kommen sie in einer ehemaligen Scheune zum gemeinsamen Frühstück zusammen – zu einem typisch deutschen Frühstück. Mit Kaffee und Brötchen, Käse und Marmelade, Kuchen.

Dreizehn Frauen sitzen am Tisch. Die meisten sind in erster, wenige in zweiter Generation in Deutschland. Alle sind Mütter, einige sogar Großmütter – die nun, wo die eigenen Kinder aus dem Haus sind, Wissen und Zeit zur Verfügung stellen. Viele machen sich allerdings gar nicht aus rein altruistischen Gründen nützlich: Stadtteilmutter, das kann auch ein Schritt auf den ersten Arbeitsmarkt sein. Längst nicht alle sind so gut ausgebildet und sprechen so gut deutsch wie Kimete Beqiri. Viele Frauen hoffen, nach der Qualifizierung eines Tages eine Stelle im sozialen Bereich ergattern zu können. Und auch als Stadtteilmütter werden sie entschädigt: Wer arbeitslos ist, wird vom Jobcenter mit gut 1000 Euro monatlich entlohnt. Berufstätige Stadtteilmütter erhalten eine Aufwandsentschädigung von 180 Euro für zehn Besuche.

Keine Fremden in die Wohnung!

Ihre „Kundinnen“ müssen sie sich dafür selber suchen: über Mundpropaganda in der eigenen Community und im erweiterten Familienkreis, in den Kitas und Schulen ihrer Kinder. Dass Erzieher oder Lehrer ihnen Eltern vermitteln ist immer noch eher die Ausnahme – und Familien zu finden, die aus eigenem Interesse Lust haben, sich coachen zu lassen, gar nicht so leicht. „Die Hemmschwelle ist bei vielen hoch,“ erzählt die iranische Stadtteilmutter Nazanin Naimi, „manche scheuen sich schlicht, Fremde in ihre Wohnung zu lassen. Andere sind der Überzeugung, dass es reicht, wenn die Schule sich um ihr Kind kümmert. Sie denken: >Ich kenne mich hier nicht aus. Also gebe ich mein Kind dort ab und bin damit auch die Verantwortung los. Das ist aber genau der Grund dafür, dass so viele Kinder als Erwachsene in Deutschland scheitern. Sie hatten außerhalb der Schule niemanden, der ihnen etwas beigebracht hat.“

Nicht selten sind auch die Ehemänner skeptisch. Sie fürchten, dass Stadtteilmütter über Dinge reden, die sie nie ansprechen würden; oder dass ihren Frauen das traditionelle Familienmodell ausgeredet wird. Die Stadteilmütter bieten ihnen deswegen an, bei den Gesprächen dabei zu sein. Nach ein paar Besuchen, sagt Kimete Beqiri, schöpften viele Vertrauen und ließen sie künftig alleine arbeiten. „Aber ein bisschen dauert es immer, bis sie nicht mehr glauben, dass wir den Frauen einen Floh ins Ohr setzen – und die am Ende noch genau so emanzipiert sind wie wir“, lacht sie. Die oberste Devise der Stadtteilmütter lautet: Vertraulichkeit. Ohne die fänden sie gerade zu schwierigen Familien auch gar keinen Zugang. Wenn sie etwas Beunruhigendes sehen bemühen sie sich, die Familie in Kontakt mit dem Jugendamt oder anderen Stellen zu bringen – aber wer nicht will, muss nicht. „Manchmal fällt das schwer“, erzählt die Deutschtürkin Havva Jürgensen, „wir sehen ja nicht nur heile Welt: Eine Familie mit zehn Kindern in vier Zimmern, hoch verschuldet, einen Vater, der alles verspielt hat, ohne Kontakt zur Außenwelt und ohne jede Aussicht auf Besserung – wie helfen Sie denen in zehn Sitzungen?“

Vermutlich nicht abschließend. Was Stadtteilmütter aber leisten können ist: Brücken in die Gesellschaft zu bauen, die häufig auch nach Jahren und Jahrzehnten fehlen. Bei den Alimis ist bereits ein großer Schritt gemacht: Lirije und Hilmi haben beschlossen, die beiden größeren Töchter in der Kita anzumelden. Das, sagt Kimete Beqiri, sei häufig das Allerwichtigste: Menschen zu überzeugen, die Bildung ihrer Kinder ernstzunehmen – und sie dafür eigene Schritte machen zu lassen.