»Multikulti?«

Das Parlament, 2002

Spät gemerkt: Ohne Integration wenig Zukunft

Dass es um das Miteinander der Kulturen in deutschen Großstädten nicht zum Besten steht hätte man nicht nur wissen können. Sondern auch verhindern. Lange vor Pisa. Lange vor der Jahrtausendwende.

Man kann sich mit Recep Celik über alles mögliche unterhalten, aber nicht über den Stand der multikulturellen Gesellschaft. Er weiß nämlich überhaupt nicht, was das sein soll: „Kenn ich nicht,“ sagt er, „davon lese ich höchstens in der Zeitung. Ich bin Türke. Ich lebe in Deutschland. Ich lebe hier gerne. Urlaub mache ich in der Türkei. Auch gerne. Fertig.“

Nun könnte man versuchen, an dem jungen Mann sozusagen ferndiagnostisch zu messen, wie es um seine Integration oder um seine Identität bestellt ist. Recep Celik ist 23 und damit im klassischen Alter für ein klassisches Kind der zweiten Generation. Er lebt in Berlin-Wedding in einer Gegend, in der 80 Prozent der Einwohner türkischer Herkunft sind. Die meisten seiner Freunde sind Türken; allerdings haben sich über die Jahre auch ein paar Deutsche eingeschlichen. Recep Celik spricht Deutsch. Recep Celik hat einen Schulabschluss. Er hat eine Lehre als Industriemechaniker absolviert. All diese drei Dinge sind äußerst bemerkenswert: Jeder dritte Schüler nicht deutscher Herkunft verlässt in Berlin die Schule ohne Abschluss; weit mehr als jeder zweite ist mit 20 Jahren arbeitslos.

Alle Ausländer in eine Klasse!

Dass der junge Mann das geschafft hat, mag daran liegen, dass er pfiffig ist, daran, dass seine Eltern Wert auf Bildung gelegt haben oder auch daran, dass ihm seine Zukunft noch nie egal war. An seiner schulischen Ausbildung jedenfalls kann es kaum gelegen haben, dass er heute besser dasteht als die meisten seiner türkischen Altersgenossen. Wenn Recep Celik an seine Einschulung zurückdenkt, muss er laut lachen. Wie sie damals gestutzt hätten, all die Jungen und Mädchen, die feststellen mussten, dass sämtliche 30 Kinder aus der Türkei stammten. Und wie die Eltern geguckt hätten, die sich freuten, dass ihr Kind endlich eine deutsche Schule besucht, wo es schon zu Hause nur türkisch spricht.

Und die Lehrerin erst, die sich mühte, eine Klasse zu bändigen, die nicht ihre Sprache spricht. Was Recep erlebt hat, war damals nicht etwa der noch gar nicht so hohen Anzahl von Kindern nicht deutscher Herkunft geschuldet, sondern hatte System: Bis in die 90er-Jahre hielt man es für eine gute Idee, Kinder wie ihn in so genannten „Ausländerregelklassen“ unterzubringen. Es gab Schulklassen, die von 25 Türken, einem Vietnamesen und einer Japanerin besucht wurden.

Angesichts der Tatsache, dass West-Berlin, das zu Mauerzeiten vor allen Dingen als „verlängerte Werkbank“ der Bundesrepublik produktiv war, seit Mitte der 60er Jahre billige Arbeitskräfte rekrutierte, ist es eine erstaunliche Erkenntnis, wie lange in der Integrationspolitik wie viel vernachlässigt wurde. Alleine zwischen 1968 und 1973 25.000 türkische Arbeitskräfte angeworben; hinzu kamen Tausende Italiener, Jugoslawen, Portugiesen. Schon in den 60ern stellten Türken allerdings die größte Gruppe.
Heute leben 130.000 Berliner türkischer Herkunft in der Stadt – in großem Abstand zu 60.000 (Ex-)Jugoslawen und 30.000 Polen.

Von Anatolien ins Armenhaus Berlins

Wenn man sich einmal daran erinnern will, wie es war, als alles anfing, kann man sich zum Beispiel mit Rita Kielhorn unterhalten. Die Kreuzberger Ärztin, die seit drei Jahren wegen ihres Engagements Trägerin des Bundesverdienstkreuzes ist, bezog Ende der 60er-Jahre ihre Praxisräume direkt am Mariannenplatz. Ihre Praxis lag in einem rein deutschen Armenhaus: Die meisten Häuser standen leer. Dann zogen die türkischen Gastarbeiter zu, die von deutschen Amtsärzten in anatolischen und kappadokischen Dörfern ausgewählt worden und ins ferne Deutschland geschickt worden waren. „Frühmorgens standen sie manchmal schon in 3er-Reihen vor der Praxis“, erzählt sie, „unter ihren Hosen trugen sie Nachthemden. Sie kamen mit Pantoffeln, hatten ihre Haare und Hände mit Henna gefärbt. Termine zu vereinbaren war nicht möglich. Die meisten hatten nie ein Telefon bedient. Und lesen und schreiben konnten sie auch nicht.“

Arbeiten aber konnten sie. Die meisten, vor allem die allein reisenden Männer, wollten ohnehin nur ein paar Jahre bleiben. Weil die Deutschen das auch so wollten, kam niemand auf die Idee, ihnen die deutsche Sprache beizubringen, von Versuchen, sie in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, ganz zu schweigen. In den 70er-Jahren, als Frauen und Kinder nachzogen, änderte sich das wenig. In den 80er-Jahren, als längst unübersehbar war, dass ganze Stadtquartiere fest in türkischer Hand waren, wurschtelte man sich so durch. Weil man den Migranten nichts zu bieten hatte und sich immer noch nicht so recht an den Gedanken gewöhnen konnte, dass sie dauerhaft in Deutschland leben, verlangte man auch nichts. Keine Sprachkenntnisse, keine Schulbesuche, keine Bemühungen um Ausbildungsplätze.

Bis man das Ausmaß der Katastrophe erkannte, dauerte es bis in die 90er-Jahre – als der Stadt seit der Wende eine Viertelmillion industrielle Arbeitsplätze verlorengegangen waren und über die Hälfte der einstigen Gastarbeiter auf der Straße saß. Plötzlich entdeckte man die massenhafte Entstehung monoethnischer Kieze, die von christdemokratischen Innenpolitikern heute als „Parallelgesellschaften“ bezeichnet werden. Man musste feststellen, dass türkische Jugendliche immer weniger gern in den Sportverein und dafür immer lieber in die Moschee gingen. Und dort nicht immer, aber auch nicht gerade selten islamistischen Predigern anhängen. Unterfüttert werden diese Beobachtungen durch statistische Befunde, die einen nicht gerade auf eine heile multikulturelle Welt einstimmten: Über 70 Prozent der Ausländer leben laut einer Studie in Armut oder armutsähnlichen Verhältnissen. Etwa jeder Türke holt laut einer Umfrage der Berliner Ausländerbeauftragten Barbara John seine Ehefrau aus der Türkei. Zwei Drittel der ausländischen Kinder können vom ersten Tag an dem Unterricht nicht folgen.

Mobile Mittelschicht flieht Multikulti

Letzteres ist für viele längst Grund, das Quartier zu wechseln. Der Wegzug als Ultima Ratio ist eine Lösung, die nicht nur Deutschen, sondern auch mittelständischen Türken als einziger Weg erscheint, ihren Kindern eine Perspektive zu verschaffen. Die Flucht aus den klassischen Einwanderer-Quartieren Nord-Neukölln, Kreuzberg-Ost und Wedding Süd vollzieht sich längst nach einem festen Muster: Wer es sich erstens leisten kann und zweitens über Bildungsbewusstsein verfügt, zieht weg, wenn das erste Kind in die Schule kommt und befürchtet werden muss, dass ihm dort keine angemessene Bildung zuteil wird. Das ist immer dann der Fall, wenn erstens der Anteil von Kindern nicht deutscher Herkunft deutlich über 50 Prozent steigt UND die Schule nicht über ein kompetentes interkulturell geschultes Team verfügt. Wer nicht wegzieht – und das gilt für konservative Kleinbürger ebenso wie für das linksliberale Bürgertum – wendet alle möglichen Tricks an, um das Kind auf einer möglichst guten Schule unterzubringen. Sie melden ihr Kind bei Freunden an, erfinden eine Oma oder entscheiden sich für abenteuerliche Schulversuche in anderen Bezirken. Die Schulverwaltung hat vor dem Problem kapituliert, weil es ihr immer noch lieber ist, dass ein Kind auf die falsche Schule geht als dass eine Steuern zahlende Familie ganz weg zieht. Nach Beobachtungen des Stadtsoziologen Hartmut Häußermann sind es nämlich in der Tat vor allem Eltern, die die viel zitierte „mobile Mittelschicht auf dem Weg ins Umland“ bilden.

Damt sind der 23jährige Recep und vor allem seine zahllosen Kollegen, die schlechter dran sind als er, außer typischen jungen Türke
n in der Diaspora aber vor allem eines: klassische Anschauungsobjekte für jahrzehntelange verfehlte Integrationspolitik. Für zuwenig Förderunterricht, für Lehrer, die mit der interkulturellen Besetzung ihrer Klassen völlig überfordert waren. Wer wissen will, was alles getan werden müsste, tut gut daran, einen Blick in die Empfehlungen der Süssmuth-Kommission zur Zuwanderung zu werfen, die so ziemlich alles vereinen, was auch Bildungsforscher seit Jahren als unabdingbar einfordern: Ausbildung von Lehrerin und Erziehern in interkultureller Pädagogik; Aufnahme des Faches Deutsch als Zweitsprache in den regulären Unterricht; mehr Angebote in der Muttersprache am Nachmittag; kleinere Klassen in Gebieten mit einem hohen Ausländeranteil.

Spätes Erwachen: Deutsch, aber schnell!

Fest steht, in Berlin wie in allen anderen Großstädten: Nicht erst seit Pisa weiß man, dass die Misere der Einwandererquartiere vor allem eine soziale – und damit eine Bildungsmisere ist. „Die Annahme, dass die Leute schon irgendwie deutsch lernen werden, hat sich als falsch herausgestellt“ sagt auch Barbara John, dienstälteste Ausländerbeauftragte der Republik. Sie sagt aber auch, dass man den Zuwanderern „nicht nur zuwenig geboten, sondern auch zuwenig Anforderungen an sie gestellt“ habe. Das sehen die inzwischen offenbar selber so: Laut einer Umfrage Johns unter Berliner Türken sprechen sich inzwischen neun von zehn für verpflichtende Sprachkurse aus.

Fatma A. zum Beispiel. Die junge Frau, die vor acht Jahren aus Ankara nach Deutschland kam, war schlicht entsetzt als sie feststellte, dass man hier in manchen Gegenden leben und sterben kann, ohne jemals ein Wort Deutsch gesprochen zu haben. Weil ihr deutsch nun immer noch schlecht ist, hat sie sich jetzt für einen der „Mütterkurse“ eingeschrieben, die seit ein paar Jahren angeboten werden. „Wo soll ich es sonst lernen?“ fragt sie. „Ich kenne nur Türken, auf der Schule meines Kindes sind nur Türken. Und jetzt ist mein Mann arbeitslos – wir können nicht wegziehen. Aber wenn wir könnten – wir würden es tun.“

Der 23jährige Recep lernt zurzeit erst einmal türkisch. Er hat sich in Berlin in einen Kurs eingeschrieben, in dem er die Fachbegriffe aus seiner Lehre auch noch einmal auf türkisch lernt. „Es hört sich doof an“, sagt er, „aber manchmal frage ich mich, welche Sprache ich überhaupt richtig spreche. Und ob ich jemals irgendwo sein werde, wo mich nicht jeder sofort als Ausländer erkennt.“

Silvia Hable: Augen zu, gilt nicht.
Auf der Suche nach einer gerechteren Welt.
(Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009)